Ich bin ja ein bescheidener Mensch. Ich habe nicht allzu viele Ansprüche und Wünsche. Zugegeben, ich mag es einfach. Mit Kaffee, WLan und einer stillen Ecke kann man mich tagelang glücklich machen.
Wenn ich mir aber einen Wunsch erfüllen dürfte, es wäre eine Tonne.
Ja. ich hätte wirklich gerne eine Tonne. Eine Raumschifftonne. Wie es sich für eine richtige Weltraumfrau wie mich gehört, so eine Tonne wie in dem Film „Im Weltraum gibt es keine Gefühle“. Da versteckt sich ein Junge immer in einer Tonne, wenn ihm alles zu viel wird, so ein Junge wie ich es bin, also kein Junge, ich bin kein Junge, aber ich bin autistisch, so wie der Junge. Der hatte so eine Tonne, und ich will auch so eine Tonne. Eine Tonne, in der ich mich verstecken kann, wenn die Welt wieder zu laut wird, zu drängend, zu erschöpfend. Wenn ich wieder innerlich wund bin von all den Sinnesreizen und Eindrücken, die da draußen lauern.
Ich habe aber keine Tonne. Ich habe keine, weil ich noch kein Tonnenfachgeschäft gefunden habe, eins mit guter Beratung und Kundenservice, 24h-Tonnenreparatur, Flugrostschadenversicherung und Notfalltonnenöffnungsdienst bei Deckelverkeilungsfällen und natürlich kostenloser Expresslieferung und Retournierung. Ich ging mal in ein Geschäft, von dem ich vermutete, ich könnte Glück haben, da könnte es eine Tonne geben, zumindest standen lauter Tonnen darin, das ist doch schon mal ein ganz gutes Zeichen, dachte ich mir. Ich ging also in das Geschäft, in dem man Schmierstoffe verkaufte und sagte, ich möchte eine Tonne, sagte ich, und der Verkäufer fragte, wat soll den drin sein, und ich so: Ich.
Stellte sich heraus, dass man keine Tonne ohne was drin kaufen kann, aber was soll ich denn mit 200 Liter Schmiermittel?
Obwohl, vielleicht laufen die Dinge dann endlich mal wie geschmiert, ich habe eh nie verstanden, warum Leute so etwas sagen wie “es läuft wie geschmiert”, ich meine, wer schmiert denn da was und womit? Und wenn nichts zu Schmieren da ist, kann es bei vielen Leuten auch einfach mal “glatt gehen”, egal, ob Sommer oder Winter, bei denen ist es dann eben glatt, aber wer streut denn dann da die Gehwege, gehört das etwa zur Kehrwoche? Da, wo ich wohne, versteht man bei der Kehrwoche nämlich keinen Spaß.
Ich habe aber auch deshalb keine Tonne, weil ich diese Tonne nicht allein in den dritten Stock schleppen könnte und auch nicht weiß, wer mir dabei helfen würde, und auch nicht will, dass mir dabei geholfen würde, weil das Small Talk mit sich bringt, wenn einem geholfen wird, es bringt immer Small Talk mit sich, macht ja keiner, einfach mal so eine Tonne hochtragen, ohne ein Gespräch zu verlangen. Das ist der Nachteil am quasi nichtexistenten Sozialleben: Ich kann keine Menschen verpflichten, unangenehme und anstrengende Dinge für mich zu erledigen – schweigend – und sie zum Dank mit fettiger, kalter Pizza abspeisen – schweigend.
Also keine Tonne für mich und so ganz ohne Tonne muss ich mich nach was anderem umsehen, um das alles dort draußen auszublenden. Rauhfasertapetenknubbel zählen, die Knie umklammern und apathisch vor und zurück wippen zum Beispiel, komplexe mathematische Gleichungen lösen, mal ein paar neue Betriebssysteme programmieren oder sich Blackjack-Karten merken. Was man als Autist halt so können muss, wenn man von Menschen ernst genommen werden möchte.
Aber ich bin halt eher so der Typ langweilige Autistin ohne die ganzen Vorzüge, die man aus Rain Man oder Mercury Puzzle kennt, mehr so eine Autistin ohne Benefits.
Ich kann nicht einfach mal so zur Entspannung die fünfhundertdrölfzigste Stelle der Zahl Pi aufsagen, oder den Grundriss der Stadt Rom um 1568 aufzeichnen oder irgendwas mit Primzahlen, was soll eigentlich immer dieser Quatsch mit den Primzahlen?
Ich bin mehr so der Tonnen-Autist.
In so einer Tonne könnte ich mich verstecken, wenn mal wieder das Telefon klingelt und Amazon mit mir reden will, nachdem ich mich per E-Mail beschwerte, dass mein Buch nicht geliefert wurde, sie um eine schriftliche Antwort bat und man mich in dieser schriftlichen Antwort darauf hinwies, dass ich telefonisch nicht zu erreichen sei und mich deshalb in einem nicht definierten Zeitraum noch zwei Mal versuchen wird anzurufen.
Ich könnte mich in sie zurückziehen, wie damals, als Mutter mich anrief und ich fragte sie, hey, Mama, was gibt’s, und sie sagte dann, dass sie gerade nicht mit mir reden möchte und dann schwiegen wir, und ich wette, dass in der Zeit Amazon anrief.
Ich könnte mich darin unsichtbar machen, wenn der Chef sagt, dass wir um Weihnachten auf die Mittagspause verzichten und könnte ich da nicht einspringen zwischen den Feiertagen, ich habe ja keine Familie daheim, und Freunde sowieso nicht, “Sie sind doch Autistin, oder wie war das, Sie müssten doch genug Zeit haben, um zu arbeiten”.
Ich könnte sie fest verschließen und mich wegträumen, wenn die innere Stimme sagt, dass das ja schon ziemlich infantil ist, ständig in einer Tonne zu hocken und mich wegzuträumen und außerdem passt das Ding nicht ins Wohnzimmer-Design und was hat das Blechmonster überhaupt gekostet, draußen bleiben müsste die innere Stimme, draußen bleiben, weil die Tonne, die wäre nur für mich.
Es würde mein Leben schon wesentlich bereichern, wenn ich so eine Tonne hätte. Dann wäre ich endlich mal in meiner eigenen Welt eingesperrt, aus der man mich unbedingt befreien müsste, mit Therapien, Medikamenten und diesem Kram. Schließlich beschäftigt sich eine ganze Industrie damit, Autisten aus irgend etwas zu befreien: Aus anderen Welten, aus sich selbst, aus ihrem Schweigen. Und ich will ja niemanden enttäuschen, indem ich dann doch so ganz anders bin, schließlich ist das ja eine unserer Kernkompetenzen: Die Erwartungen anderer zu erfüllen.